Kritische Praktiken: Medien der Account(dis)ability

Panel auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft

Freie Universität Berlin

Donnerstag 29. September 2016, 9 bis 11 Uhr

In und über Medien kritisch zu reflektieren, kann Medientheorie nicht davon erlösen, zu wissen und zu prüfen, was Medien überhaupt sind und wie sie soziale Praktiken gestalten. Für die selbstkritische Einsicht in die eigenen Grundlagen und die Folgen von vermeintlich selbstverständlichen Grundbegriffen stellt das Panel eine ethnomethodologische Medientheorie zur Diskussion. Diese ermöglicht es, den Medienbegriff nicht vorab festzulegen, sondern im alltäglichen Handeln zu verorten. Erst über den Umweg der Empirie und der Ethnomethoden wird ablesbar, was ein Medium ist. Einer solchen Medientheorie ist die kritische Selbstreflexion durch den Bezug auf ihren Gegenstand und seine Konstitutionsbedingungen als Handlungsprogramm in die Begriffsarbeit eingeschrieben. Wenn Medien sich im alltäglichen Gebrauch konstituieren, dann finden sich dort auch die kritischen Vermögen, deren Spuren sich medientheoretisches Denken widmet.
Auf dieser Grundlage soll das Panel zeigen, wie Akte des Sichtbarmachens – des „accounting“ – in und durch Medien soziale Eigenschaften, Unfähigkeiten und Abhängigkeiten zuschreiben. Der Gebrauch sozialer Medien erfordert eine kompetente und routinierte Handhabe von Accounts, Devices und technischen Infrastrukturen. Man muss Medien können, über Fähigkeiten in einer adäquaten Weise verfügen, um „account-able“ in sozialen Medien zu sein. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass Akteure als unfähige, als „disabled“-Akteure in ein soziales Unvernehmen (Ranciere) absinken, sobald sie nicht über die relevanten Kompetenzen verfügen.
Das Panel thematisiert „Medien der Account(dis)ability“ und versucht die Frage zu beantworten, wie Medien in diesem Sinne sicht- und dokumentierbare soziale Unterschiede zwischen „abled“ und „disabled“ erzeugen, aber auch dabei helfen können, solche Unterschiede zu überwinden. Der Zusammenhang von Medien und Behinderung wird dazu auf der Grundlage einer soziologisch interessierten Theorie der Medienpraktiken vertieft werden.


Wie man eine Position bezieht und eine Behinderung überwindet:
Operative Bilder einer kritischen Medienpraktik

Tristan Thielmann (Univerisität Siegen)

In ihrer „Soziologie der kritischen Urteilskraft“ skizzieren Boltanski/Thévenot (2007 [1991]) Kritik als situierte Praxis, die durch die Dokumentation eines Situationsverlaufs sichtbar wird. Inwiefern kann demnach eine Analyse medialer Alltagspraktiken zeigen, dass sämtliche Akteure eines Handlungsprozesses in der Lage sind, kritische Ressourcen zu mobilisieren?
Wenn wir mit Bruno Latour (2013) davon ausgehen, dass „Hindernisse für Handlungsverläufe“ dazu in der Lage sind, Medien sichtbar zu machen, muss dann der Zusammenhang von Kritik und Medien nicht in der Weise beschrieben werden, dass erst durch Kritik Medien hervorgebracht werden und nicht umgekehrt?
Dieser Beitrag überträgt die Sozial- und Techniktheorie der Kritik auf die Funktionsweise operativer kritischer Bilder. Derartige Bilder sind im medienwissenschaftlichen Diskurs bislang nicht in ihrer Situierung betrachtet worden. Wie Sybille Krämer (2009) darlegt, sind operative Bilder durch eine Spezifik der Flächigkeit, der Gerichtetheit, des Graphismus, der Syntaktizität und der Referenzialität gekennzeichnet. Diese Eigenschaften sind nicht nur für Geographische Informationssysteme charakteristisch (vgl. Jochmann/Kobe 2013), sondern können insbesondere auch für die Analyse von Navigationsmedien nutzbar gemacht werden.
Um die zu untersuchenden Praktiken gegenüber den durch sie konstituierten Medien vorzuordnen, wird sich der Vortrag der Untersuchung von Navigationspraktiken widmen, die sich quer durch Online- und Offline-Welten bilden. Durch dieses grenzüberschreitende Setting ist die Möglichkeit geschaffen, der Frage nachzugehen, durch welche kritischen Bilder und Hindernisse im Handlungsverlauf sich Medienpraktiken stabilisieren.
Untersuchungsgegenstand ist u.a. die Hindernisvermeidung in der Nutzung von Hobbydrohnen, die durch die Einzeichnung von Sperrzonen in digitale Karten ermöglicht wird, wie auch der generelle Umgang mit Geofencing-Technologien in der Nutzung von Navigationsanwendungen. Die Analyse dieser kritischen Bilder erlaubt Rückschlüsse auf „Praktiken, die den Raum gliedern“ im Sinne von de Certeau (2006 [1980]).


Prothesen, Körper und Asymmetrien:
Medientheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Medien und Behinderung

Andreas Henze (Univerisität Siegen)

Was machen Medien in sozialen Praktiken mit ihren Akteuren, was verlangen sie ihnen ab? Welche Akteursweisen und Körperformen generieren Medien? Konstituieren Medien Behinderungen und/oder machen sie diese unsichtbar? Der Vortrag fragt, inwiefern Medien als prothetische Aktanten und als Mittel zur Bewältigung des Alltags der Anderen verstanden werden können. Es wird davon ausgegangen, dass die Nutzung und damit die Konstitution von Medien in Praktiken des Gebrauchs stattfindet. Medien machen Akteure, ihre Handlungen und ihre Körper für andere Partizpanden sozialer Praktiken sicht-, beobacht- und nachvollziehbar. Konkret geht es mir darum zu zeigen, wie ‚behinderte‘ Akteure in und als Medien erzeugt werden. Welche Medien entstehen und werden relevant innerhalb sozialer Konstellationen, in denen Akteure behindert werden? Anhand von empirischem Material einer medienethnographischen Studie werden exemplarisch soziale Praktiken und die in diesen stattfindenden Assoziationen von Medien und ‚behinderten Körpern‘ rekonstruiert.
Dafür diskutiere ich drei Thesen: 1.) Ausgehend vom empirischen Material wird diskutiert welche begrifflichen Folgen und Potenziale sich ergeben, wenn Medien einerseits als prothetische Medien und andererseits als Medien zur Bewältigung des Alltags der Anderen konzipiert werden. 2.) Medienpraktiken als verkörpertes Handeln wird in der Medienforschung strukturell vernachlässigt. Der Vortrag rückt körperliche Handlungs- und Kommunikationsfähigkeiten in den Mittelpunkt. Dafür werden Konzepte des Körpers verglichen und am empirischen Material auf ihre medientheoretische Relevanz geprüft. 3.) In Medienpraktiken kommt es als permanente Leistung der handelnden Akteure zu a) einer symmetrischen Vermischung von Sozialem und Technischem. In einem gleichzeitigen wie gegensätzlichen Verhältnis dazu steht b) die Asymmetrisierung von Sozialem und Technik, die Handlungsprobleme und -krisen bei behinderten bzw. behindernden Akteuren – im sozialisierten Körper – verortet.


Chronische sensomotorische Störungen in medientheoretischer Hinsicht

Erhard Schüttpelz (Universität Siegen)

In der Begründung der Medientheorie spielte die Figur der chronischen sensomotorischen Störung eine versteckte, aber um so nachhaltigere Rolle. ‚Medien‘ sind laut McLuhan alle Erweiterungen der menschlichen Sinne und des Zentralen Nervensystems, und die Erweiterungen des menschlichen Organismus erweisen sich zugleich als ‚Amputationen‘ oder notwendige ‚Selbstamputationen‘: „Any Invention or technology is an extension or self-amputation of our physical bodies, and such extension also demands new ratios or new equilibriums among the other organs and extensions of the self.“ (Understanding Media, Ch. 4) Seitdem sind die von McLuhan in diesem Satz aufgerufenen Genealogien der Prothesen-, Stress- und Homöostasentheorien in der Medienwissenschaft umfassend rekonstruiert worden, und zugleich wurden die Erfindungsgeschichten etwa der Blindenschrift, der Gebärdensprachen und des Cochlea-Implantats als Teil der Mediengeschichte erforscht. Mittlerweile lohnt es sich daher, zur Aktualisierung von McLuhans Einsicht vom anderen konzeptuellen Ende aus vorzugehen: Wenn Medien tatsächlich zugleich ‚Amputationen‘ und ‚Erweiterungen‘ sind, was lässt sich aus der Betrachtung von chronischen sensomotorischen Störungen, im Alltag ‚Behinderungen‘ genannt, über Medien lernen? Wenn es eine gemeinsame Erfindungsgeschichte von Medien und Behinderungen gibt, wie weit trägt die von McLuhan aufgeworfene Analogie oder Reversibilität, und zu welchen Revisionen gibt sie mittlerweile Anlass? Und was wird auf diesem Wege aus McLuhans kulturkritischer Intervention, der Parabel von Narziss und Narkose?


Was zählt und wer zählt? Kritische Datenpraktiken von Apps und Plattformen

Carolin Gerlitz (Universität Siegen)

Während sich die Software Studies in ihrer Frühphase durch ein Interesse an Einzelmedien und ihrer Spezifizität auszeichneten, so richtet sich der Fokus inzwischen zunehmend auf die verteilte Vollzugswirklichkeit softwarebasierter Medien. Die Kapazitäten von Software werden nicht allein in ihren Benutzeroberflächen oder algorithmischen Verrechnungsprozessen verortet, sondern durch eine Vielzahl von Akteuren außerhalb der Software selbst verhandelt, realisiert und auch behindert. Zwar definieren sozialen Medien, Plattformen und vor allem Apps durch ihre „Grammatiken der Handlung“ (Agre 1994) standardisierte und quantifizierbare Handlungsoptionen, doch ihre Interpretation (Bijker und Pinch 1984) sowie ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verwertung (Gerlitz und Lury 2014) finden zunehmend außerhalb der jeweiligen App in komplexen Beziehungsgeflechten von Support- und Analyse-Apps statt. Diese erlauben es App-Grammatiken und Daten neu zu kombinieren, mit anderen Medien zu verschalten, alternativ darzustellen, neu zu interpretieren oder mit Hilfe ergänzender Informationen zu realisieren. Allerdings verbleiben eben jene Support-Apps, die unterstützend zur Nutzung primärer Apps und Plattformen eingesetzt werden sowohl in der Praxis als auch in der digitalen Forschung meist unsichtbar.
Mittels digitaler Methoden sollen die Support-App Netzwerke populärer Apps, wie u.a. Instagram, nachverfolgt werden. Die Analyse dieser Support-Apps erlaubt einen alternativen Zugang zu Medienpraktiken und ermöglicht ihre situative Aushandlung, räumliche Verteilung und Multi-Valenz (Marres 2011) empirisch nachzuvollziehen und dadurch „accountable“ zu machen. Apps definieren zwar, was gezählt werden kann, doch es ist ihr Zusammenspiel mit den Support-App Netzwerken und die dadurch ermöglichten Praktiken, in denen aushandelt wird, was zählt. Support-App-Netzwerke befördern Accountabilität und modifizieren das Spektrum der Praktiken, die mit Apps möglich sind. Sie nehmen damit sowohl eine prothetische als auch parasitäre Funktion ein.

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